Arbeit oberhalb der „mentalen Dauerbelastungsgrenze“. Leistungsregulierung bei qualifizierter digital vernetzter Arbeit (LedivA)
Digitalisierung und Vernetzung sind zwei der Trends, die die dramatischen Veränderungen in der Arbeitswelt in den letzten Jahren und Jahrzehnten beschreiben. Dieses vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Förderinitiative „Gesund - ein Leben lang“ geförderte Projekt hat das Ziel mit dem arbeitssoziologisch, -medizinisch und -psychologisch fundierten Konzept einer ‚mentalen Dauerbelastungsgrenze‘ ein Instrument zur Bewertung psychosozialer Belastungsgrenzen einzuführen und empirisch zu begründen.
Hintergrund
Die Prognose, wie Digitalisierung menschliche Arbeit zukünftig verändern wird, geht derzeit primär in zwei Richtungen: 1) Menschliche Arbeit wird mehr oder weniger vollständig durch autonome, selbstregulierende technische Systeme ersetzt. 2) Menschliche Arbeit wird in komplexe digital vernetzte Informationssysteme eingebunden, die multiple Arbeitsbereiche und Geschäfts-Prozesse „digital vernetzen“. Aktuelle Beispiele hierfür sind Customer Relationship Management-Systeme (CRM-Systemen), standortübergreifende Produktionssysteme oder webbasierte Distributionssysteme. Durch solche Vernetzungen werden Aufgabenfelder und Handlungsspielräume mancher Beschäftigten wahrscheinlich nicht eingeschränkt, sondern z.T. sogar erweitert. Gleichzeitig besteht aber für den einzelnen Beschäftigten kaum noch die Möglichkeit, die Intensität der zu erbringenden Arbeitsleistung zu steuern. Zudem trägt die Anforderung an „Echtzeitreaktion“ durch Kunden und Kollegen in Bezug auf Kooperation und Kommunikation wesentlich zu Leistungsdruck und Arbeitsstress bei.
Digital vernetzte Arbeit induziert in ihrer Dynamik so eine über den gesamten Arbeitstag gleichbleibende Leistungsintensität und tendiert zur permanenten Ausschöpfung der Höchstleistung. Hierdurch entstehen besondere physische wie psychische Belastungen und Beanspruchungen, die sich auch auf die gesamte Lebensgestaltung auswirken können.
Projektziele:
Übergreifendes Verbundziel ist die humanorientierte und gesundheitsförderliche Gestaltung digital vernetzter Arbeit in klein- und mittelständischen Unternehmen der Produktion und Dienstleistung mit konkreten Handlungsempfehlungen für Akteure des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes.
Teilziele des Projekts im Detail:
Forschungsziel: Auf arbeitswissenschaftlicher Ebene wird ein arbeitssoziologisches, -psychologisches und -medizinisches Konzept zur Beurteilung von Belastungen durch digital vernetzte Arbeit und zur Ermittlung mentaler Dauerbelastungsgrenzen erarbeitet. Orientiert am arbeitsphysiologischen Konzept der körperlichen „Dauerleistungs- bzw. -belastungsgrenze“ wird ein Konzept „psychosozialer“ bzw. „mentaler Dauerbelastungsgrenzen“ definiert.
Praxisziel A: Konzepte zur Förderung der individuellen Leistungsregulierung bei kontinuierlich hohen Leistungsanforderungen: Es werden zum einen verhältnisbezogene Maßnahmen entwickelt und erprobt, die eine dauerhafte und nachhaltige gesundheitsförderliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen ermöglichen, zum anderen verhaltensbezogene Maßnahmen, die eine gesundheitsförderliche Verbindung von Arbeit und Lebensführung gewährleisten.
Praxisziel B: Präventionsinstrument „Betriebsärztlicher Instrumentenkoffer – Digital vernetzte Arbeit“: Betriebsärzten werden Analyse- und Beratungsinstrumente an die Hand gegeben, mit deren Hilfe sie betriebliche Arbeitsschutz-Akteure bei der Beurteilung von Risiken, aber auch bei der gesundheitsförderlichen Gestaltung digital vernetzter Arbeit unterstützen können. Zur Betreuung betroffener Beschäftigter wird ein Gesundheitscoaching im Sinne eines erweiterten Beratungskonzepts entwickelt, das auf diese spezifische Arbeitsform zugeschnitten ist.
Methodik:
In der Analysephase werden ein systematischer Review, problemzentrierte und Experteninterviews, Betriebsfallstudien, Fragebogenerhebungen sowie eine ärztliche Untersuchung inkl. Anamnese durchgeführt.
Während der Interventionsphase werden in den Unternehmen mit den Beschäftigten in Gruppendiskussionen verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen entwickelt und implementiert. Außerdem wird ein betriebsärztliches Gesundheitscoaching entwickelt und mit besonders betroffenen Mitarbeitergruppen durchgeführt.
Die Maßnahmen werden in einem kontrollierten Pre-Posttest-Design summativ evaluiert, wobei die Kontrollgruppe opportunistisch aus den Mitarbeitern besteht, die sich sowohl in der Analysephase als auch im Nachtest an den Erhebungen beteiligen, aber selber an keiner der Maßnahmen teilgenommen haben. Die summative Evaluation erfolgt anhand klinischer und psychologischer Tests sowie Fragebögen u.a. zu Arbeitsbedingungen, Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden.
Flankierend wird eine formative Evaluation anhand einer kontinuierlichen Prozessdokumentation und Bewertung erfolgen, um ggf. notwendige Anpassungen des Vorgehens, zeitnah durchführen zu können.
Ergebnisse:
Die wichtigsten Projektergebnisse wurden auf der Abschlussveranstaltung am 16.3.2022 präsentiert. Die im Rahmen des Projekts entwickelten Instrumente stehen hier zum Download zur Verfügung.
Partner
- Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. in München (ISF München)
- Forschungseinheit Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg
- PR-Tronik Elektronik-Handels GmbH
- Glomb Blechbearbeitung GmbH & Co. KG
- REFLEXA-WERKE Albrecht GmbH
Publikationen
- Heiden, B., Zolg, S. & Herbig, B. (2022). Erprobung eines betriebsärztlichen Gesundheitscoachings zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden bei Beschäftigten mit qualifizierter digital vernetzter Arbeit. In Dokumentation der 62. Wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM) (S. 134-138). München: Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V.
- Zolg, Heiden, Herbig (2021). Digitally connected work and its consequences for strain – a systematic review. Journal of Occupational Medicine and Toxicology 16(1):42
Kontakt
Prof. Dr. Britta Herbig
80336 München