Mitochondriale Erkrankungen
Überblick
Mitochondrien erzeugen Energie in Form von ATP durch oxidative Phosphorylierung. Dabei durchlaufen Reduktionsäquivalente wie NADH und FADH2 die Atmungskette, um Elektronen auf Sauerstoff zu übertragen und Protonen zu pumpen. Der Rückfluss der Protonen durch Komplex V ermöglicht die ATP-Synthese aus ADP und anorganischem Phosphat.
Mitochondriale Dysfunktion spielt eine zentrale Rolle bei vielen Erkrankungen. Seit der Identifikation der ersten krankheitsverursachenden Mutationen der mitochondrialen DNA (mtDNA) im Jahr 1988 wurden zahlreiche genetisch bedingte mitochondriale Erkrankungen beschrieben.
Die meisten der etwa 1.500 für Mitochondrien notwendigen Proteine werden vom nukleären Genom kodiert und in die Mitochondrien importiert. Mitochondrien besitzen jedoch auch eine eigene mtDNA, die 13 Strukturproteine der Atmungskette sowie rRNAs und tRNAs kodiert. Mutationen in nukleären Genen führen zu autosomal vererbten mitochondrialen Erkrankungen, während mtDNA-Mutationen im Allgemeinen maternal vererbt werden. Trotz der geringen Größe der mtDNA sind viele pathogene Mutationen und zugehörige Phänotypen bekannt.
Zu den häufigsten mitochondrialen Erkrankungen zählen
- die chronisch progrediente externe Ophthalmoplegie (CPEO),
- die mitochondriale Enzephalomyopathie mit Laktat-Azidose und „stroke-like episodes“ (MELAS) und
- die Lebersche hereditäre Optikus-Neuropathie (LHON).
Symptomorientierte Therapien wie kombiniertes Ausdauer- und Krafttraining, Antiepileptika, Herzschrittmacher und Ptosis-Operationen können den Verlauf und die Lebensqualität verbessern. An krankheitsmodifizierenden Therapien ist bisher nur Idebenon bei LHON zugelassen, aber zahlreiche andere Ansätze, einschließlich Gentherapie, befinden sich in klinischer Entwicklung.
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Chronisch progrediente externe Ophthalmoplegie (CPEO) und Kearns-Sayre-Syndrom (KSS)
Diese Erkrankungen resultieren meist aus Deletionen, selten aus Punktmutationen der mtDNA, zum Teil aber auch aus nukleären Defekten, die sekundär zu mtDNA-Deletionen führen. CPEO-Patienten leiden unter Ptose und einer fortschreitenden Einschränkung der Augenbewegungen, nur zum Teil begleitet von Doppelbildern. Weitere Symptome können Muskelschwäche, Dysphagie und Dysarthrie umfassen. KSS ist historisch definiert als Trias von CPEO, Retinopathia pigmentosa und Beginn vor dem 20. Lj. plus Ataxie, kardiale Überleitungsstörungen oder hohes Liquoreiweiß. Zusatzsymptome wie Hörverlust, Demenz, Kleinwuchs, Neuropathie und Diabetes mellitus treten auch bei CPEO häufig auf (CPEO plus) und zeigen, dass CPEO und KSS Teil eines klinischen Kontinuums sind.
Diagnose: Das EMG zeigt oft ein myopathisches Muster, CK und Laktat sind nur in etwa der Hälfte der Fälle erhöht. Bildgebende Verfahren zeigen häufig Hirnatrophie und Marklagerläsionen. Muskelbiopsien zeigen „ragged-red fibers“ und COX-negative Fasern, und dienen als Material für die genetische Testung. Singuläre mtDNA-Deletionen deuten auf ein sporadisches Auftreten hin, während multiple Deletionen auf einen nukleären Gendefekt hindeuten.
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Mitochondriale Enzephalomyopathie mit Laktat-Azidose und „stroke-like episodes“ (MELAS)
MELAS wird durch Punktmutationen der mtDNA, in ca. 80% der Fälle an Position 3243 im tRNA-Leucin-Gen, verursacht. Nach normaler früher Entwicklung treten in der 1.–3. Dekade epileptische Anfälle und „stroke-like episodes“ auf, begleitet von neurologischen und psychiatrischen Symptomen. Weitere Symptome sind Diabetes mellitus, Hörverlust, Muskelschwäche, Demenz, Retinitis pigmentosa, Migräne und Kleinwuchs. Der Schweregrad der Erkrankung korreliert mit dem Heteroplasmie-Grad der Mutation.
Nur etwa 10 % der Mutationsträger entwickeln das Vollbild von MELAS; häufiger sind mildere Verläufe wie „maternally Inherited diabetes and deafness“ (MIDD). Heteroplasmie-Grad und Phänotyp variieren stark innerhalb von Familien.
Diagnose: Erhöhtes Laktat im Serum und Liquor, Hirnatrophie und Basalganglienkalzifikationen in der Bildgebung.
Der Nachweis der Mutation erfolgt aus Blut oder Urinsediment, Muskelbiopsien sind meist nicht mehr erforderlich.
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Lebersche hereditäre Optikus-Neuropathie (LHON)
Die LHON ist mit einer Prävalenz von etwa 1:30.000 eine der häufigsten mitochondrialen Erkrankungen. Über 95 % der Patienten haben Punktmutationen der mtDNA an den Positionen 11.778, 3.460 oder 14.484, die in Untereinhiten des Komplex I liegen. Diese Mutationen führen zu verminderter ATP-Synthese und erhöhter Produktion freier Sauerstoffradikale, was zur Dysfunktion und zum Verlust retinaler Ganglienzellen führt.
Bemerkenswert ist eine inkomplette Penetranz, d.h. es erkranken bei Männern nur ca. 17,5%, bei Frauen ca. 5,4% der Träger bzw. Trägerinnen der häufigsten pathogenen Sequenzvarianten der mitochondrialen DNA. Genetische und Umweltfaktoren spielen eine Rolle bei der Krankheitsmanifestation, insbesondere Rauchen als bekannter Risikofaktor.
Die Krankheit kann in jedem Alter auftreten, meist jedoch zwischen dem 15. und dem 35. Lebensjahr.
In der akuten Phase kommt es zu einer schmerzlosen, subakuten Verschlechterung des zentralen Sehens, oft auch des Farbensehens, die meist monokulär beginnt und später das zweite Auge betrifft. Eine dauerhafte schwere Sehverschlechterung bleibt in den meisten Fällen bestehen, Remissionen sind selten. Diagnostisch wird oft zunächst eine Optikusneuritis vermutet, daher sollte bei Verdacht auf LHON zeitnah ein Gentest aus Blut durchgeführt werden.Zur Behandlung der LHON ist seit 2015 das synthetische CoQ-Derivat Idebenon zugelassen, das als Elektronen-Carrier in der Atmungskette und als starkes intramitochondriales Antioxidans wirkt. Idebenon ist gut verträglich, und erhöht bei einem Teil der Patientinnen und Patienten die Wahrscheinlichkeit einer signifikanten Erholung der Sehschärfe.