Muskeldystrophien
Überblick
Muskeldystrophien (MD) bilden eine klinisch und genetisch heterogene Gruppe genetisch determinierter, progredienter Erkrankungen des Muskels. Gemeinsames Symptom aller MD ist eine fortschreitende Muskelschwäche und –atrophie, die sich in Verteilungsmuster und Schweregrad zwischen den verschiedenen MD-Formen deutlich unterscheidet. Typische histologische Befunde zeigen vermehrte Faserkalibervariationen, ein Miteinander von de- und regenerierenden Muskelfasern und bereits in frühen Stadien signifikante endo- und perimysiale Fibrose. Für gewöhnlich erlaubt die morphologische Untersuchung eine eindeutige Zuordnung zur Diagnose MD, ohne allerdings eine Einordnung in die verschiedenen Diagnosen innerhalb dieser Gruppe zu ermöglichen. MD können in jedem Lebensalter auftreten; z.B. fallen Kinder, die an einer Form der kongenitalen MD (MDC) leiden, bereits bei Geburt oder kurz darauf durch generalisierte Hypotonie („floppy infant“) auf, während sich bei Patienten mit okulopharyngealer MD (OPMD) die ersten Symptome meist erst zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr zeigen.
Nach konservativen Schätzungen beträgt die Prävalenz für MD bei beiden Geschlechtern um 28/100.000, d.h. bei einem von 3500 Personen der deutschen Bevölkerung kann eine ererbte neuromuskuläre Erkrankung, die sich bei Geburt oder im Verlauf des späteren Lebens äußert, angenommen werden. Die häufigste Form stellt die X-chromosomal rezessiv vererbte Muskeldystrophie Duchenne (DMD) dar, erstmals beschrieben von G. Duchenne im Jahr 1861. 1986 wurde das zugrunde liegende Gen, in Folge auch das Genprodukt entdeckt, wodurch die molekulare Diagnose von DMD und der milderen allelischen Variante BMD möglich wurde. Ungefähr 50 Jahre später publizierte Batten die ersten Fälle mit kongenitaler Muskeldystrophie (MDC). Im Gegensatz zum Duchenne/Becker-Phänotyp sind Schwäche und dystrophe Veränderungen im Muskel bereits bei Geburt vorhanden.
Der Begriff der Gliedergürteldystrophie (limb girdle muscular dystrophy, LGMD) wurde Mitte des 20. Jh. geprägt, als klar wurde, dass eine zusätzliche große Gruppe nicht-kongenitaler Muskeldystrophien existiert, die sich sowohl von den X-chromosomalen Dystrophinopathien (DMD/BMD) als auch von der autosomal dominanten Facio-scapulo-humeralen Muskeldystrophie (FSHD) unterscheidet. Zwischenzeitlich hat sich der Begriff LGMD von einer Verlegenheitsdiagnose zu einer immer weiter expandierenden, detaillierten Liste von LGMD-Subtypen gewandelt, für die eine akkurate molekulare Diagnostik zur Verfügung steht.
Der Erkrankungsbeginn reicht vom frühen Kindesalter bis in das späte Erwachsenenalter, dabei kann der gleiche Gendefekt allelische Fomen mit einer klinischen Bandbreite von kongenitalen und Gliedergürtelformen verursachen, wie z.B. für das Fukutin-related-protein-Gen (FKRP) gezeigt werden konnte. Klinisch kommt es zu einer fortschreitenden Parese der Becken- und Schultergürtelmuskulatur. Betroffene klagen häufig über Schwierigkeiten beim Treppensteigen und bei der Ausführung von Tätigkeiten über Kopf.
Die Entdeckung von Emerin, dem für die X-chromosomale Muskeldystrophie Emery-Dreifuss (EDMD1, X-EDMD) verantwortlichen Gen, und die Beschreibung einer autosomal dominanten Variante (EDMD2) auf dem Boden von Mutationen im Lamin A/C-Gen (LMNA) zeigte die Bedeutung des „nuclear envelope“ für neuromuskuläre Erkrankungen. Mutationen in LMNA führen auch zu dilatativer Kardiomyopathie mit Überleitungsstörungen (CMD1A), Gliedergürteldystrophie 1B (LGMD1B), Charcot–Marie–Tooth Erkrankung Typ 2B1 (CMT2B1), und einer Vielzahl anderer, nicht-neuromuskulärer Erkrankungen wie der familiären partiellen Lipodystrophie Typ Dunnigan, der mandibuloacralen Dysplasie, oder Syndromen des vorzeitigen Alterns wie der Hutchinson-Gilford-Progerie und dem atypischem Werner-Syndrom. Des Weiteren wurde ein neuer Laminopathie-Phänotyp mit kombinierter Myopathie und Progerie beschrieben.
Die Identifikation der genetischen Ursache und des defekten Proteins bei einer Reihe von MD hat in den letzten Jahren die Klassifikation dieser Erkrankungen revolutioniert und erlaubt neue Einsichten in die pathophysiologischen Zusammenhänge.
Die wachsende Zahl von Genorten, spezifischen Genen und Genprodukten, die in der Pathogenese der Muskeldystrophien eine Rolle spielen, macht es für ein einzelnes klinisches Zentrum oder Labor unmöglich, das gesamte Spektrum molekulargenetischer Diagnostik abzudecken. Dabei ermöglicht eine präzise Diagnose Vorhersagen zu Verlauf und Prognose der Erkrankung, hat Einfluss auf die Berufswahl des Patienten, dient der Prävention von Komplikationen (respiratorische Insuffizienz, Herzrhythmusstörungen, Kardiomyopathie), ist Voraussetzung jeder genetischen Familienberatung, einer eventuellen Pränataldiagnostik sowie für den Einschluss des Patienten in klinische Studien und für künftige molekulare Therapieformen. Die Diagnostik sollte schrittweise erfolgen, Grundlage ist eine ausführliche Anamnese einschließlich Familienanamnese (Beginn distal/proximal, Kontrakturen, kardiale/pulmonale Beteiligung, Erbgang rezessiv/dominant/X-chromosomal). Bei der körperlichen Untersuchung sollten Schweregrad und Verteilungsmuster der Paresen besondere Beachtung finden. Ferner ist die Bestimmung der Kreatinkinase (CK) im Serum sowie eine elektromyographische Untersuchung (pathologische Spontanaktivität, myopathisches Muster) sinnvoll. Myosonographie und Kernspintomographie helfen bei fortgeschrittenen Paresen und Atrophien eine zur diagnostischen Muskelbiopsie geeignete Stelle zu finden. Meist ist allerdings heute eine primäre molekulare Diagnose unter Umgehung der Muskelbiopsie möglich.
Histologisch führt die Muskelbiopsie zur Bestätigung der Diagnose „Muskeldystrophie“ oder zum Ausschluss anderer, gegebenenfalls kausal behandelbarer Diagnosen. Mittels ausführlicher Proteindiagnostik (Immunhistochemie, Western-Blot) lassen sich Defekte MD-assoziierter Proteine nachweisen. Häufig erlaubt das Ergebnis eine spezifische Einordnung der jeweils vorliegenden Muskeldystrophie, oft ist aber die Kombination von Proteindiagnostik und molekulargenetischer Analyse von entscheidender Bedeutung. Fallen all diese Untersuchungen negativ aus, so muss die Einordnung der MD insbesondere im sporadischen Fall und bei kleinen Familien vorerst offenbleiben. Die definitive Diagnose wird erst dann möglich, wenn die defekten Gene und Proteinprodukte charakterisiert sind.
Eine deutschlandweite Übersicht mit Laborstandorten und Adressen zur genetischen Diagnostik bei Muskeldystrophien bietet das Muskeldystrophie-Netzwerk MD-NET
Obwohl in vielen Fällen noch keine medikamentöse Therapie zur Verfügung steht, haben sich Lebenserwartung und –qualität der MD-Patienten in den letzten Jahren verbessert. Hierzu tragen vornehmlich symptomatische Therapien und Hilfsmittel bei, das oberste Ziel sollte die Verbesserung der Lebensqualität sein. Hierzu gehören:
- Physiotherapie
- Hilfsmittelversorgung, besonders Orthesen- und Rollstuhlversorgung
- Ggf. heilpädagogische, logopädische Förderung oder Ergotherapie in Abhängigkeit des Entwicklungsstandes
- Orthopädische Mitbetreuung, kontrakturlösende Eingriffe und bei Gehunfähigkeit Korrektur von Wirbelsäulendeformitäten
- Kardiologische Betreuung und symptomatische Therapie, z.B. bei Kardiomyopathien
- Regelmäßige pneumologische Diagnostik einschließlich Bodyplethysmographie (Vitalkapazität) und/oder bei jüngeren Kindern die Polysomnographie. In Abhängigkeit des Ausmaßes der restriktiven Ventilationsstörung ggf. die nicht-invasive Beatmung oder Beatmung über ein Tracheostoma. Hier zeigen neue Daten, dass der frühzeitige Einsatz der nicht-invasiven Beatmung entscheidend die Symptome und die Lebensqualität verbessern können.
- Bei Problemen bei der Nahrungsaufnahme Anlage einer PEG-Sonde
- Bei zerebralen Krampfanfällen/Epilepsie entsprechende antikonvulsive Therapie
- Ophthalmologische Betreuung
- Humangenetische Beratung und ggf. Pränataldiagnostik
Für erbliche Muskeldystrophien wird in der Zukunft wohl eine Reihe von Substanzen notwendig sein, um eine spürbare Veränderung des Phänotyps zu erreichen - von der genbasierten, kausalen Therapie über Phänotypmodulation mit Hilfe von Exon Skipping, Exon Snipping, Stopcodon Readthrough, der Hochregulation anderer Proteine oder auch symptomatischen Therapien mit antiinflammatorischer, antifibrotischer, antioxidativer, anaboler oder membranstabilisierender Wirkung. Der Erkenntnisgewinn in diesem Bereich nimmt stetig zu.
Eine Hoffnung basiert dabei auf dem „genome editing“ mit CRISPR (clustered regularly interspaced short palindromic repeats)/Cas(CRISPR-associated protein)9. CRISPR/Cas9-basierte Verfahren werden zum Ausschneiden von Exonen auf genomischer Ebene („exon snipping“) entwickelt. Antisense-Oligonukleotide (AONs) werden eingesetzt, um den „Leserahmen“ für das fehlerhafte Protein auf Ebene der prä-mRNA durch gezieltes Überspringen (Exon Skipping) eines oder mehrere Exons wiederherzustellen. Zur Übertragung der gentherapeutischen Werkzeuge werden häufig AAV-Vektoren verschiedener Serotypen eingesetzt. Das Immunsystem spielt im Hinblick auf Nebenwirkungen eine zentrale Rolle.
Neue Entwicklungen im Bereich der personalisierten Gentherapie zielen strategisch auf bestimmte, genetisch determinierte Subtypen der Erkrankung, basierend auf dem jeweiligen Krankheitsmechanismus und dem resultierenden Phänotyp, und setzen damit ein Beispiel für andere hereditäre Erkrankungen. Der Erkenntnisgewinn in diesem Bereich nimmt stetig zu; dennoch ist es noch ein weiter Weg, bevor diese Therapieformen Pathologie und Phänotyp der betroffenen Patienten tatsächlich werden korrigieren können.
Die Forschungsprojekte des Instituts zu Muskeldystrophien umfassen Genotyp-/Phänotyp-Korrelationen bei verschiedenen MD-Subtypen, insbesondere bei Gliedergürteldystrophien (LGMD), klinische Studien bei verschiedenen Muskeldystrophieformen, gesundheitsökonomische Projekte sowie molekulare Therapien.
Im Rahmen des im 6. EU-Rahmenprogramm geförderten Projekts TREAT-NMD wurden weltweit Patientenregister eingerichtet, um die Planung und Durchführung von multizentrischen klinischen Studien zu erleichtern. Die Register für deutsche und österreichische Patienten mit Muskeldystrophien Typ Duchenne, Becker, fazioscapulohumeraler Muskeldystrophie, myotonen Dystrophien sowie FKRPopathien (MDC1C/LGMD2I) und Proteinaggregat-/myofibrillären Myopathien befinden sich am Friedrich-Baur-Institut. Die Registrierung erfolgt online unter www.treat-nmd.de bzw. www.dmd-register.de, www.fshd-register.de, www.dm-register.de, www.fkrp-register.de und www.pam-register.de