Pressemitteilungen | 13.04.2023
Wenn Menschen wochenlang bettlägerig sind, wächst das Risiko eines Blutgerinnsels, das in einer Vene entsteht, durch den Kreislauf wandert und ein Blutgefäß in den Lungen verstopft. Immobilität ist tatsächlich einer der größten Risikofaktoren für eine solche venöse Thromboembolie mit ihren lebensgefährlichen Folgen. Warum aber können Braunbären im Winter monatelang nahezu regungslos schlafen, ohne annähernd in die Gefahr dieser Erkrankung zu kommen? Und warum haben querschnittsgelähmte Patienten nach der Akutphase der Verletzung kein erhöhtes Thromboserisiko? Antworten auf das Paradox hat ein internationales Team von Forschenden unter Federführung von Privat-Dozent Dr. Tobias Petzold aus der Medizinischen Klinik I (Direktor: Prof. Dr. Steffen Massberg) des LMU Klinikums gefunden. Des Rätsels Lösung: Braunbären wie auch Querschnittsgelähmte nutzen einen Mechanismus, der die Interaktionen zwischen Blutplättchen und Immunzellen reduziert und somit die Entstehung von Blutgerinnseln verhindert. Die Entdeckung ist weitreichend und könnte neue Therapiemöglichkeiten eröffnen, wie auch das hoch-renommierte Wissenschaftsmagazin Science fand, das die Studienergebnisse jetzt veröffentlichte.
Für die Herz- und Kreislaufspezialisten des LMU Klinikums um Tobias Petzold begann dieses Forschungsprojekt mit zwei Reisen nach Mittelschweden – eine im Sommer, eine im Winter. Dort wird eine ganze Schar von Braunbären seit mehr als zehn Jahren wissenschaftlich untersucht, unter anderem vom dänischen Kardiologen Prof. Dr. Ole Frobert vom Universitätskrankenhaus im schwedischen Örebro, der seinen Münchner Kollegen das neue Kooperationsprojekt vorschlug.
Die Braunbären tragen GPS-Sender, die ihren Aufenthaltsort markieren, und wurden für eine Blutentnahme sediert und sofort wieder in die Freiheit entlassen. In einem mobilen Labor analysierten Kardiologe Petzold und seine Kollegen die Proben binnen drei bis vier Stunden. Die Frage: Unterscheidet sich das Gerinnungssystem der Braunbären im Winterschlaf und in der Aktivität des Sommers? Das sogenannte plasmatische Gerinnungssystem spielt normalerweise bei der Entwicklung venöser Thrombosen eine entscheidende Rolle. „Doch da haben wir keinen dramatischen relevanten Unterschied gefunden“, sagt Kardiologin Dr. Manuela Thienel, Co-Erstautorin der Studie.
Einen Teil der Blutproben nahmen die Forschenden nach München mit, wo sie in ihren Laboren die Blutplättchen genauer unter die Lupe nahmen. Dabei stellte sich heraus: Im winterschlafenden Braunbärenkörper „wird die Interaktion zwischen den Blutplättchen und Entzündungszellen des Immunsystems gebremst“, wie der Kardiologe Petzold sagt, „das erklärt das Ausbleiben der venösen Thrombose.“ Genau die gleichen Mechanismen wiesen die Wissenschaftler dann bei querschnittsgelähmten Patienten nach – und bei gesunden Probanden, die sich im Rahmen eines Versuchs der europäisch-deutschen und amerikanischen Raumfahrtbehörden (DLR und NASA) drei Wochen lang buchstäblich ins Bett legen.
Um dem molekularen Mechanismus hinter dem schützenden Prozess auf die Spur zu kommen, holten sich die Mediziner die Expertise von Prof. Dr. Matthias Mann und Dr. Johannes Müller-Reif, ebenso Erstautor der Studie, vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried. Mittels sogenannter Massenspektroskopie-basierter Proteomik wurden fast 2.700 aktive Proteine in den Blutplättchen der Bären quantifiziert. Entscheidend dabei: In Winterruhe wurden gegenüber der Sommeraktivität 71 Proteine hoch- und 80 herunterreguliert. Johannes Müller-Reif: „Das Blutplättchen-Protein mit dem größten Unterschied zwischen überwinternden und aktiven Bären war das Hitzeschockprotein 47, das in den überwinternden Bären um das 55-fache herunterreguliert war.“ Insbesondere konnten die Forscher zeigen, dass die Herabregulation dieses HSP47 unter Langzeit-Immobilisation in verschiedenen Säugetierarten (Mensch, Braunbär und Schwein) passiert und somit ein evolutionär konservierter Mechanismus zur Thromboseprävention ist.
Durch geringe HSP47-Proteinlevel reduziert sich die Interaktion von Blutplättchen und Entzündungszellen. Tatsächlich, so Tobias Petzold, „ist HSP47 allein in der Lage, die Entzündungszellen zu aktivieren.“ Im biomedizinischen Umkehrschluss bedeutet das: Könnte man das HSP47 mit einem passenden Molekül bei immobilisierten Akutpatienten blockieren, ließe sich womöglich die Gefahr einer venösen Thrombose verhindern. Zwar gibt es für Laborexperimente bereits sogenannte kleine Moleküle, die HSP47 ausschalten. Doch für einen möglichen Einsatz am Menschen eignen sie sich nicht. „Deshalb“, sagt Tobias Petzold, „wollen wir jetzt selbst nach entsprechend geeigneten Substanzen suchen.“
Publikation:
„Immobility-associated thromboprotection is conserved across mammalian species from bear to human“
DOI: 10.1126
Medizinische Klinik und Poliklinik I
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