Interview mit Prof. Dr. Schulte-Körne, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am LMU Klinikum
Herr Prof. Schulte-Körne, in den letzten 12 Jahren hat die Kinder- und Jugendpsychiatrie des LMU Klinikums viel erreicht. So ist es zum Beispiel gelungen, die Anzahl der Behandlungsplätze nahezu zu verdoppeln …
Prof. Schulte-Körne: … das ist richtig. Als die Klinik im Jahr 2010 eröffnet wurde, zeigte sich schon bald, dass der Bedarf bei der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher erheblich größer ist, als wir ihn mit unserem Angebot decken konnten. In den folgenden Jahren ist es uns gelungen, die Kapazitäten kontinuierlich von 30 stationären und 10 teilstationären auf 54 stationäre und 20 teilstationäre Behandlungsplätze zu erweitern. Parallel dazu wuchs unsere Forschungsabteilung stetig an, sodass wir eine Reihe von neuen klinischen Forschungsbereichen etablieren konnten. Im Haus St. Vinzenz, das im Mai diesen Jahres eröffnet wurde, stehen der KJP-Forschungsabteilung nun gemeinsame Forschungsräume an einem Standort zur Verfügung. Auch unsere Tagesklinik ist ins St.-Vinzenz-Haus umgezogen, wo wir für Kinder und Jugendliche mit Essstörungen, Depressionen, Schulleistungs- und anderen Angststörungen ein multimodales und integratives Behandlungskonzept bereithalten. Und auch in der medizinischen Lehre ist das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie inzwischen fest verankert.
Im März diesen Jahres ist am LMU Klinikum zudem eine Psychiatrische Transitionsstation eröffnet worden. An wen richtet sich das neue Versorgungsangebot?
Prof. Schulte-Körne: Auf der Transitionsstation mit stationärer und teilstationärer Versorgung werden junge Menschen mit psychischen Erkrankungen betreut, die zwischen 16 und 25 Jahre alt sind. Dazu muss man wissen: Junge Menschen mit psychischen Erkrankungen, die alters- und entwicklungsbedingt zwischen Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie liegen, wurden bisher in der medizinischen Versorgung kaum berücksichtigt. Dabei verlangt gerade diese Gruppe eigentlich unsere besondere Aufmerksamkeit, denn vielen fällt der Schritt in die Erwachsenenpsychiatrie sehr schwer. Und längst nicht immer ist der Fortgang ihrer Behandlung gewährleistet, wenn sie volljährig geworden sind. Diese jungen Menschen brauchen jedoch nicht nur eine spezielle Psychotherapie, sondern auch eine besondere psychosoziale Behandlung, die sie darin unterstützt, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Gemeinsam mit der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie für Erwachsene unter Leitung von Prof. Dr. Falkai haben wir diese Behandlungslücke nun geschlossen: Mit der Psychiatrischen Transitionsstation stehen beiden Kliniken jetzt 16 stationäre Behandlungsplätze zur Verfügung, 8 kinder- und jugendpsychiatrische und 8 erwachsenpsychiatrische Betten, zudem bis zu 4 tagesklinische Plätze.
Haben die psychischen Erkrankungen bei Heranwachsenden zugenommen?
Prof. Schulte-Körne: Die Zahl der jungen Patient:innen mit einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung ist seit Jahren hoch. Studien zur Neuerkrankungsraten zeigen jedoch, dass in den Pandemiejahren stressassoziierte Erkrankungen wie Angst-, Depression- und Essstörungen bei jungen Menschen deutlich zugenommen haben. Diese Ergebnisse decken sich auch mit meiner persönlichen Erfahrung.
Sie haben dann in Partnerschaft mit der Beisheim Stiftung für Kinder und Jugendliche das digitale Infoportal „Corona und Du“ ins Leben gerufen – mit zahlreichen Tipps, damit sie psychisch gestärkt durch diese Zeit zu kommen.
Prof. Schulte-Körne: Auf dem Infoportal werden unter anderem ganz alltägliche Probleme wie Langeweile oder Stress angesprochen und Lösungen aufgezeigt, um besser damit umzugehen. Für schwerwiegende Probleme und starke psychische Belastungen verweist „Corona und Du“ auf anerkannte Anlaufstellen und andere Möglichkeiten, therapeutische Unterstützung zu bekommen.
Welche Auswirkungen der Corona-Pandemie hat den jungen Menschen besonders zu schaffen gemacht?
Prof. Schulte-Körne: Während der Pandemie haben wir verschiedene Effekte gesehen. Vor allem die Lockdowns und das Homeschooling haben bei den Kindern und Jugendlichen erhebliche Spuren hinterlassen. Dabei hatten nicht nur der Bewegungsmangel, sondern auch die massive Einschränkung der sozialen Kontakte erhebliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der jungen Menschen. Vor allem der regelmäßige Austausch mit Gleichaltrigen kann Kindern und Jugendlichen helfen, Stresssituationen einigermaßen zu bewältigen. Fällt diese wichtige Kompensationsmaßnahme weg, kann die Belastung überbordend werden. Deutlich zugenommen hat vor allem die Anzahl der Jugendlichen mit Depressionen und Essstörungen. Viele von ihnen sind so schwer krank, dass sie auf eine stationäre Behandlung dringend angewiesen sind.
Inzwischen kommt noch der Ukraine-Krieg dazu. Befürchten Sie, dass die Anfrage nach stationärer bzw. teilstationärer oder auch nach ambulanter Behandlung weiter steigen wird?
Prof. Schulte-Körne: Das ist sogar sehr wahrscheinlich. Wobei die kindliche Psyche auf Belastungen oft verzögert reagiert – das konnten wir schon während der Corona-Pandemie beobachten. So haben wir zum Beispiel einen Anstieg der Erkrankungsrate nicht gleich nach dem ersten Lockdown festgestellt, sondern erst einige Monate später.
Gibt es Risikofaktoren für die Entstehung einer psychischen Erkrankung?
Prof. Schulte-Körne: Einige Risikofaktoren gibt es. Dazu gehört zum Beispiel eine genetische Disposition: Oft leben die betroffenen Jugendlichen in einer Familie, in der weitere Familienmitglieder psychisch erkrankt sind. Generell ist es so, dass Jugendliche in bestimmten Lebensphasen besonders vulnerabel sind, vor allem in der Entwicklungsphase vom 12. bis zum 20. Lebensjahr. Sind die Jugendlichen in dieser Zeit heftigen Stressoren ausgesetzt, ohne zu wissen, wie sie damit umgehen sollen, ist die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung einer psychischen Erkrankung deutlich erhöht.
Ein leider oft vernachlässigter Aspekt ist die ungute Macht der Bilder in den Medien – ein Aspekt, der gerade in diesen Tagen besondere Beachtung verdient. Denn Bilder und Filme vom Kriegsgeschehen überfordern Kinder in erheblichem Maße – bis hin zur Auslösung eines Traumas. In Anbetracht der erheblichen Belastung für die Kinderseele, die von diesen Bildern ausgeht, ist es dringend geboten darüber nachzudenken, wie die Kinder besser davor geschützt werden können.
Vor gut einem Jahr haben Sie unter dem Titel „Ich bin alles“ zudem das deutschlandweit einzigartige digitale Infoportal zu Depression und psychischer Gesundheit zusammen mit der Beisheim Stiftung gestartet. Viele Beiträge sind von Jugendlichen für Jugendliche und damit in einer Sprache, die von allen verstanden wird …
Prof. Schulte-Körne: … genau. „Ich bin alles“-Portal richtet sich an Kinder und Jugendliche mit Depression sowie an ihre Eltern, aber auch an nicht erkrankte Kinder und Jugendliche, die sich zu dem Thema informieren möchten. Das Infoportal basiert auf der S3-Behandlungsleitlinie, die ich selbst mit koordiniert habe, und die den aktuellen wissenschaftlichen Stand zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer Depression zusammenfasst.
Dass Jugendliche selbst zu Wort kommen und zum Beispiel über ihre Erkrankung sprechen, war uns ein ganz wichtiges Anliegen. Wir haben auch junge Moderator:innen, die Therapeut:innen interviewen. Zudem gibt es verständliche Erklärvideos zu Krankheitsursachen und Behandlungsmethoden. All das haben wir im Austausch mit Jugendlichen und mit der Unterstützung von Medienpädagogen und Kommunikationsprofis entwickelt – über einen Zeitraum von gut drei Jahren. Es geht darum, dass gerade Kinder und Jugendliche diese Inhalte, die sie gesundheitlich betreffen, genau verstehen.
Und das ist nicht immer der Fall?
Prof. Schulte-Körne: Nein. Fakt ist: Jugendliche fühlen sich häufig nicht wahrgenommen. Und dieses Gefühl spiegelt sich dann in Äußerungen wider wie „Ich kann ja eh nichts machen.“ Oder: „Mich hört ja sowieso niemand an.“ Die Jugendlichen empfinden es so, als würden sie nicht als repräsentierter Teil unserer Gesellschaft behandelt werden. Dabei sind ihre Sorgen häufig auch die der ganzen Gesellschaft: die Kriegsangst, die gerade viele umtreibt, ist ein gutes Beispiel dafür. Aber es stimmt schon: Die Einbindung von Kindern und Jugendlichen in gesellschaftliche Prozesse findet oftmals nicht statt. Immer noch wird über die Kinder und Jugendlichen entschieden, aber nicht mit ihnen. Das sollte uns, wie ich finde, doch sehr zu denken geben. Und wir sollten überlegen, wie es gelingen kann, Kinder und Jugendliche an diesen Prozessen direkt zu beteiligen.
Haben Sie Lösungsvorschläge?
Prof. Schulte-Körne: Viele Strukturen und Prozesse sind ja vorgegeben, deshalb ist es nicht leicht, etwas zu verändern. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn Kinder und Jugendliche aktiv in die medizinische und vor allem therapeutische Entscheidung mit eingebunden werden. Wenn sie selbst artikulieren können, was sie wollen und was nicht. Und wenn man sie erst einmal darüber aufklärt, was es konkret bedeutet, mit einem bestimmten Medikament, einer Psychotherapie oder eben auch in einer spezialisierten Klinik stationär behandelt zu werden – und das altersgerecht und in für sie verständlichen Worten.
Über Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne
Prof. Schulte-Körne ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, seit 2006 ist er Lehrstuhlinhaber für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der LMU München und Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am LMU Klinikum.
Seine klinischen und wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Ursachenforschung, Prävention und Therapieentwicklung und -evaluation von depressiven Störungen sowie von schulischen Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Seine Forschung wurde mit dem August Homburger Preis 2007 und dem Hermann-Emminghaus Preis 2009 ausgezeichnet.
Über die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
In der von Prof. Schulte-Körne geleiteten Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des LMU Klinikums München (KJP) werden jährlich ca. 1.500 Kinder und Jugendliche von 0 bis 21 Jahren mit Erkrankungen aus dem gesamten Spektrum kinder- und jugendpsychiatrischer Erkrankungen von einem multidisziplinären Team ambulant, teilstationär und stationär behandelt. Zu den Therapieschwerpunkten der Klinik gehören Depression, Ess-, Angst-, Bindungs- und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Aktuelle und evidenzbasierte wissenschaftliche Erkenntnisse sind die Basis für die multimodalen und interdisziplinären Behandlungsangebote.
Die beiden digitalen Infoportale „ich bin alles“ und „Corona und du“ sind erreichbar unter:
www.ich-bin-alles.de
bzw. unter www.corona-und-du.info
Ansprechpartner
Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne
Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie LMU Klinikum