Kinderschutz
Interdisziplinäre Hauner Kinderschutzgruppe des Dr. von Haunerschen Kinderspitals
Kinderschutz ist anhaltende Herausforderung für Medizin und öffentliche Institutionen. Eine – akute oder latente – Kindeswohlgefährdung liegt dann vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls eines Kindes droht oder bereits eingetreten ist (§ 8a SGB VIII).
Körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, emotionale Misshandlung und körperliche und emotionale Vernachlässigung in der Kindheit werden unter dem Oberbegriff Kindesmisshandlung zusammengefasst.
Körperliche Misshandlung kann definiert werden als direkte Gewalteinwirkung durch z.B. Schlagen, Schütteln, Verbrennen, Verätzen oder Vergiften. Das Münchhausen-by-Proxy Syndrom zählt ebenfalls zur körperlichen Misshandlung und beinhaltet Manipulation und Angabe falscher Krankheitssymptome beim Kind durch die Bezugsperson.
Bei sexuellem Missbrauch werden Handlungen unter Ausnutzung von Abhängigkeits- und asymmetrischen Vertrauensverhältnissen angewandt. Es bestehen „Hands-on“-Taten (sexuelle Handlungen mit Körperkontakt) und „Hands-off“-Taten (exhibitionistische Verhaltensweisen gegenüber dem Kind, Erstellen und Vorzeigen pornographischer Medien).
Die Vernachlässigung kann in die körperliche und emotionale bzw. psychische Vernachlässigung eingeteilt werden. Bei der körperlichen Vernachlässigung besteht eine nicht hinreichende Fürsorge, die zu Entwicklungs- und Gedeihstörungen führen kann. Bei der psychischen Vernachlässigung ist das emotionale Beziehungsangebot unzureichend, bei der emotionalen Misshandlung wird eine Ablehnung, Negativierung oder Drohung gegenüber dem Kind ausgedrückt.
Im Jahr 2016 wurden 2.510 Menschen im Alter von 14 bis 94 Jahren in Deutschland hinsichtlich einer erlebten Kindesmisshandlung befragt. Es gaben 31% der Befragten an, eine Kindesmisshandlung erlitten zu haben, 14% sogar mehrere Misshandlungsformen. Hierbei war die emotionale (13,3%) und körperliche Vernachlässigung (22,5%) am häufigsten. Emotionale Misshandlung betraf 6,5%, körperliche Misshandlung 6,7% und sexueller Missbrauch 7,6% der Befragten (Witt et al. Child Adolesc Psychiatry Ment Health (2018) 12:24. https://doi.org/10.1186/s13034-018-0232-5).
Das Vorgehen bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung am Dr. von Haunerschen Kinderspital orientiert sich an der «S3 Leitlinie Kinderschutz» (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-069.html).
Drei Grundsätze werden beim Umgang mit dem betroffenen Kind und dessen Bezugspersonen beachtet: (1) Fallverantwortlichkeit, (2) Transparenz und (3) multiprofessionelle Teamarbeit.
Kindesmisshandlung entsteht auch durch Unkenntnis und/oder Überforderung der Bezugspersonen. Eine Entschuldigung für Gewalt gegen Kinder ist dies jedoch nicht. Zum Wohle der Kinder erfolgt die genaue Evaluation des psychosozialen Umfeldes und die primär nicht-wertende Kommunikation mit den engsten Bezugspersonen durch die Kinderschutz-Fachkräfte des Dr. von Haunerschen Kinderspitals.
Die «Hauner Kinderschutzgruppe» ist ärztlich geleitet und besteht aus den Disziplinen (Neuro-) Pädiatrie, Kinderchirurgie, Psychologie, Sozialdienst und Pflege (siehe Abbildung "Hauner Kinderschutzgruppe").
Das Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ist in einem strukturierten, in der gesamten Klinik zugänglichen Procedere beschrieben. Dies beinhaltet auch Vordrucke für die schriftliche und photographische Dokumentation. Diese standardisierte Dokumentation ist für die klinikinternen Fallbesprechungen, für die Gespräche mit dem Kind und den Sorgeberechtigten und für die Kommunikation mit anderen Disziplinen, Helfersystemen und Gerichten erforderlich. In München kommt der direkten und koordinierten Zusammenarbeit mit der Bayerischen Kinderschutzambulanz der Rechtsmedizin der LMU eine ganz besondere Bedeutung zu.
Am Anfang des hausinternen Procederes steht der Kontakt in unserer zentralen Notaufnahme. Die Kinder werden hier durch die Dienstärzt:innen aufgenommen. Sollte der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung entstehen, erfolgt zunächst die genaue Anamnese, die gründliche körperliche Untersuchung des Kindes, sowie die Fotodokumentation und die schriftliche Dokumentation. Vor Einleitung spezifischer weiterführender Maßnahmen werden die Dienstoberärzt:innen involviert und die Familie wird ruhig und sachlich über Situation und notwendiges Vorgehen aufgeklärt.
Im nächsten Schritt wird die interdisziplinäre Hauner Kinderschutzgruppe über den Fall informiert und die stationäre Aufnahme für mindestens 24 Stunden angestrebt.
Je nach Befunden und je nach Art der Kindeswohlgefährdung werden im Rahmen der stationären Betreuung spezifische Maßnahmen (Labordiagnostik, bildgebende Verfahren, Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion, Konsile etc.) eingeleitet.
Wichtig (nicht nur für die Diagnose, sondern auch für die Nachsorge) ist die Bestimmung von Resilienzen des Kindes (z.B. Selbstständigkeit, psychische Stabilität) und der Eltern (z.B. Einsicht, Handlungsmöglichkeit) und von Schutzfaktoren (z.B. andere erwachsene Person im direkten Umfeld übernimmt Unterstützung des Kindes). Maßnahmen der frühen Hilfen oder familienunterstützende Maßnahmen werden mithilfe externer Kooperationspartner möglichst zeitnah etabliert. In Fällen, in denen in der familiären Situation keine Möglichkeiten zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung vorhanden sind, ist ein Unterbringungswechsel zum Schutz des Kindes indiziert. Die Entscheidung darüber liegt beim Jugendamt und Familiengericht.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych.
Mirjam Landgraf
Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin,
Schwerpunkt Neuropädiatrie, Psychologin,
Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin,
Oberärztin
Dr. med. Carmen Parisi
Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin
Dr. med. Florian Bergmann
Facharzt für Kinderchirurgie, Oberarzt
Judith Kleist M.Sc.
Psychologische Psychotherapeutin,
Leitung des Psychosomatischen Konsil- und Liasondienst
Sophia Limberg M.Sc.
Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin i.A.
Linda Kettner M.Sc.
Psychologin
Dipl. Soz.-Päd. (FH) Conny Seubert
Sozialdienst
Dipl. Soz.-Päd. (FH) Jana Goette
Sozialdienst, ISEF (zertifizierte Kinderschutzfachkraft),
Traumapädagogin/ Traumafachberaterin (DeGPT/FVTP),
systemische Beraterin (DGSF)
Martin Schimmel
Pflege
Pia Gerle
Pflege
Claudia Friedrich
Pflege
Magdalena Fiolek
Pflege
Etta Scheuermann
Pflege
Ursula Schwärzler
Pflege
Barbara Ehrenberger
Pflege
Martina Hildebrandt
Pflege
Bei Kindesmisshandlung ist mit Folgebeeinträchtigungen der Kinder zu rechnen. Daher ist es wichtig, die Kinder mittel- und langfristig anzubinden, potenzielle körperliche und psychische Störungen frühzeitig zu erkennen und dementsprechende Therapien einzuleiten.
Hierbei fokussiert sich die kinderchirurgische Nachsorge bei uns im Haus vor allem auf die Folgebehandlung bei Frakturen, Wunden und thermischen Verletzungen, während die neuropädiatrische Weiterbetreuung im iSPZ Hauner die bio-psycho-sozialen Aspekte der Entwicklung und neurologischen Gesundheit aufnimmt. Um der Komplexität der möglichen Sekundärerkrankungen zu begegnen, wird die Betreuung durch ein interdisziplinäres Team, bestehend aus Kinderneurologie/Entwicklungsneurologie, Psychologie, medizinischen Therapeut:innen, Sozialdienst, und eventuell Kinder- und Jugendpsychiatrie ermöglicht.
Ziele jeglicher Unterstützung in der Nachsorge von misshandelten oder vernachlässigten Kindern sind die Förderung der Alltagsfunktionalität, der psychischen Gesundheit, der Partizipation in der Gesellschaft und der Lebensqualität der betroffenen Menschen.
Wenn Sie einen Verdacht auf Kindesmisshandlung haben, können Sie als Sorgeberechtigte Ihr Kind jederzeit in der Notfallambulanz des Dr. von Haunerschen Kinderspitals vorstellen (24/7).
Wenn Sie als Ärzt:innen oder andere Fachkräfte den Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung haben, können Sie das Kind mit den Sorgeberechtigten in die zentrale Notaufnahme des Dr. von Haunerschen Kinderspitals schicken (werktags gerne auch mit Vorankündigung).
Sie haben außerdem die Möglichkeit, sich (patienten-anonymisiert) über die RemApp der Bayerischen Kinderschutzambulanz beraten zu lassen oder eine ISEF (Insofern Erfahrene Fachkraft) zu kontaktieren.