Neuronale Mechanismen und hormonelle Einflussvariablen der Emotionserkennung bei Jugendlichen mit Anorexia nervosa
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Deutsch:
Anorexia nervosa ist eine Erkrankung, die durch deutliches Untergewicht, eine ausgeprägte Körperschamestörung sowie übertriebener Angst vor einer Gewichtszunahme gekennzeichnet ist. Die Erkrankung manifestiert sich meist im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter und betrifft vorwiegend Mädchen und Frauen. Zusätzlich zu der Kernsymptomatik geht die Magersucht häufig auch mit Schwierigkeiten im sozialen und emotionalen Bereich einher, denen eine wesentliche Rolle sowohl bei der Entstehung als auch bei der Aufrechterhaltung der Erkrankung zugeschrieben wird. Es ist somit von großer Bedeutung zu verstehen, wie Patientinnen mit Magersucht emotionale und soziale Informationen wahrnehmen und verarbeiten, sowie potenzielle Defizite im sozio-emotionalen Bereich zu identifizieren und zu charakterisieren. Die Untersuchung jugendlicher Patientinnen ist hierbei aus mehreren Gründen besonders relevant: zum einen ist die Inzidenz der Erkrankung im Jugendalter besonders hoch, zum anderen sind sozio-emotionale Fähigkeiten noch nicht vollständig ausgereift. Somit könnten Defizite oder Veränderungen in zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen, wenn sie bereits im Jugendalter vorhanden wären, mit der normalen Entwicklung sozio-emtionaler Fähigkeiten interferieren, was sich besonders negativ auswirken könnte.
Ziel der Studie war es deshalb zu untersuchen, wie Jugendliche mit Anorexia nervosa emotionale Gesichtsausdrücke wahrnehmen, erkennen und verarbeiten. Zum einen wurden die neurophysiologischen Korrelate der Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke bei Jugendlichen mit Anorexia nervosa mit Hilfe ereigniskorrelierter Potenziale (EKPs) untersucht. Zum anderen wurden die Emotionserkennungsfähigkeiten auf der Verhaltensebene untersucht. Mädchen mit Anorexia nervosa wurden nicht nur mit einer gesunden Kontrollgruppe sondern auch einer klinischen Kontrollgruppe (Mädchen mit Depression) verglichen. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass Anorexia nervosa nicht die einzige psychische Erkrankung ist, die mit Veränderungen in der Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke und Beeinträchtigungen im Erkennen emotionaler Gesichtsausdrücke in Zusammenhang gebracht wurde, sondern auch bei Patienten mit depressiven Erkrankungen solche Veränderungen bzw. Beeinträchtigungen gefunden wurden.
English:
Anorexia nervosa is a mental disorder characterized by significantly low body, intense fear of gaining weight, and body image disturbance. Adolescent and young adult women are most frequently affected. In addition to the core symptoms, patients with anorexia nervosa have also been found to show difficulties in social and emotional functioning and these difficulties have been proposed to play a major role in the development and maintenance of the disorder. Therefore, it is of great importance to understand how individuals with anorexia nervosa perceive and process emotional and social information as well as to identify and characterize potential deficits in socio-emotional domains. The examination of adolescent patients is particularly relevant: first, because the incidence of the disorder is particularly high in adolescents and second, because socio-emotional skills are still subject to developmental change during adolescence. Hence, impairments or alterations in underlying brain mechanisms could be particularly detrimental if already present in adolescent patients, as they might interfere with the normal development of socio-emotional skills.
Therefore, the aim of the present study was to investigate how adolescents with anorexia nervosa perceive, recognize, and process emotional facial expressions. On the one hand we examined the neurophysiological correlates of processing emotional faces in adolescents with anorexia nervosa using event-related potentials (ERPs). On the other hand we assessed emotion recognition abilities on the behavioral level. Girls with anorexia nervosa were not only compared to a healthy control group but also to a clinical control group (girls with depression). This takes into account that anorexia nervosa is not the only mental disorder that has been found to be associated with alterations in the processing of emotional faces and impairments in the recognition of emotions in facial expressions.
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Deutsch:
Insgesamt wurden 89 Mädchen im Alter von 12-18 Jahren im Rahmen der Studie untersucht. Die Stichprobe von Patientinnen mit Anorexia nervosa umfasste 26 Mädchen, die Stichprobe von Patientinnen mit Depression 28 Mädchen und als gesunde Kontrollgruppe nahmen 37 Mädchen an der Studie teil. Es wurden ein Elektroenzephalogramm (EEG) während vier verschiedenen Aufgaben aufgezeichnet, bei denen die Teilnehmerinnen Photographien von Gesichtern mit emotionalen Gesichtsausdrücken (Freude, Traurigkeit, Angst, Wut, Neutral) sahen und diese entweder Betrachten oder anhand verschiedener Kriterien kategorisieren mussten. Eine dieser Aufgaben erfasst die Emotionserkennungsfähigkeiten auf der Verhaltensebene. Aus dem EEG wurden vier EKP-Komponenten, die vier aufeinanderfolgenden Phasen der Verarbeitung emotionaler Gesichter abbilden (P100, N170, Early Posterior Negativity - EPN, Late Positive Potential - LPP), extrahiert und analysiert.
Es zeigte sich, dass Jugendliche mit Anorexia nervosa sich in den neurophysiologischen Korrelaten der Wahrnehmung und Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke sowohl von gesunden Jugendlichen als auch Jugendlichen mit Depression unterschieden. Alle Gesichtsausdrücke lösten bei Patientinnen mit Anorexia nervosa eine geringer ausgeprägte EPN aus, als bei den Kontrollgruppen. Die EPN ist eine frühe EKP-Komponente, die eine automatische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstufe reflektiert und die durch die intrinsische Salienz emotionaler Stimuli moduliert wird. Die Gruppenunterschiede deuten darauf hin, dass für Jugendliche mit Anorexia nervosa die Gesichter anderer Menschen weniger intrinsisch salient waren und weniger selektive Aufmerksamkeit auf sich zogen; also als weniger relevant oder weniger "wichtig" wahrgenommen wurden. Da Anorexia nervosa Patientinnen sich von beiden Kontrollgruppen unterschieden kann davon ausgegangen werden, dass es sich um eine Anorexia nervosa-spezifische Veränderung handelt die nicht durch komorbide depressive Symptomatik erklärt werden kann. Über die Ursachen dieser Unterschiede lässt sich allerdings nur spekulieren: möglicherweise kommen sie dadurch zustande, dass für Patientinnen mit Anorexia nervosa krankheitsrelevante Merkmale einer Person (z.B. deren Gewicht und Figur) salienter sind als sozial relevante Merkmale (also deren Gesichtsausdruck). Die veränderten neurophysiologischen Korrelate der Verarbeitung emotionaler Gesichter zeichneten sich jedoch nicht als Emotionserkennungsdefizite auf der Verhaltensebene ab sondern im Gegenteil: behavioral zeigten Patientinnen mit Anorexia nervosa eine geringfügig bessere Emotionserkennungsleistung als gesunde Mädchen und als Mädchen mit Depression. Es ist allerdings denkbar, dass die Unterschiede in den neurophysiologischen Korrelaten der emotionalen Gesichterverarbeitung längerfristig betrachtet bei der Entstehung von Defiziten eine Rolle spielen: dass soziale Informationen in Form von Gesichtern anderer Menschen für Patientinnen mit Anorexia nervosa weniger intrinsische Salienz aufweisen könnte dazu beitragen, dass sich die Patientinnen zunehmend sozial isolieren und dies könnte wiederum die Entstehung von Emotionserkennungsdefiziten begünstigen. Dieser Zusammenhang ist jedoch rein hypothetisch und sollte, ebenso wie die Ursachen der neurophysiologischen Veränderungen, zukünftig anhand von prospektiven Studien näher beleuchtet werden.
English:
A total of 89 girls ageing 12-18 years were included in the study. The sample included 26 girls with anorexia nervosa, 28 girls with depression and 37 healthy control girls. An electroencephalogram (EEG) was recorded during four tasks in which the participants saw pictures of emotional facial expressions (happiness, sadness, fear, anger, neutral) and had to either watch the pictures of categorize the pictures according to different criteria. One of this tasks assessed emotion recognition abilities behaviorally. From the EEG, four ERP-components, representing four consecutive stages of emotional face processing (P100, N170, Early Posterior Negativity - EPN, Late Positive Potential - LPP), were extracted and analyzed.
Results indicated that adolescents with anorexia nervosa differed from both, healthy adolescents as well as adolescents with depression, in the neurophysiological correlates of perception and processing of emotional facial expressions. Patients with anorexia nervosa showed a reduced EPN in response to all facial expressions, compared to the control groups. The EPN is an early ERP-component that reflects an automated perception and processing stage and is modulated by the intrinsic salience of emotional stimuli. The group differences indicate that other people’s faces were less intrinsically relevant and attracted less selective attention in adolescents with anorexia nervosa, i.e., were perceived as less relevant or less “important” to themselves by this group. As anorexia nervosa patients differed from both control groups it can be assumed that the alterations are specific to anorexia nervosa and cannot be explained by comorbid depression. One can only speculate about the causes of these alterations: maybe they arise because disorder-relevant characteristics of people (e.g., their weight and shape) are more salient to anorexia nervosa patients than socially relevant characteristics (their facial expression). The altered neurophysiological correlates of face processing were not reflected as emotion recognition deficits on the behavioral level: on the contrary, anorexia nervosa patients showed slightly superior emotion recognition abilities, compared to healthy and depressed girls. However, it is possible that in the long term the differences in the neurophysiological correlates of emotional face processing play a role in the development of impaitments: social information in the form of emotional faces being less intrinsically salient for anorexia nervosa patients could contribute to increasing social isolation of the patients which in turn could foster the development of emotion recognition difficulties. Admittedly, this relationship is of hypothetical nature and needs to be investigated by future prospective studies, as need the causes of the neurophysiological alterations that were found in the present investigation.
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Mitarbeiter/-innen
Dr. Anca SfärleaDipl. Psych.4400 56913Fuyg-Rwgipäigvim ful_vfiuyziusmi -
APA Format
Sfärlea, A., Greimel, E., Platt, B., Bartling, J., Schulte-Körne, G., & Dieler, A.C. (2016). Alterations in neural processing of emotional faces in adolescent anorexia nervosa patients-an event-related potential study. Biological Psychology, 119, 141-155. https://doi.org/10.1016/j.biopsycho.2016.06.006
Sfärlea A, Greimel E, Platt B, Bartling J, Schulte-Körne G, Dieler AC (2017). Neurophysiologische Korrelate der Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke bei Jugendlichen mit Anorexia nervosa. 43. Tagung Psychologie und Gehirn, Trier.
Sfärlea, A., Greimel, E., Platt, B., Dieler, A.C., & Schulte-Körne, G. (2018). Recognition of emotional facial expressions in adolescents with anorexia nervosa and adolescents with major depression. Psychiatry Research, 262, 586-594. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2017.09.048
Sfärlea, A.*, Dehning, S.*, Keller, L.K., Schulte-Körne, G. (2019). Alexithymia predicts maladaptive but not adaptive emotion regulation strategies in adolescent girls with anorexia nervosa or depression. Journal of Eating Disorders, 7: 41.
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Gefördert durch das Förderprogramm für Forschung und Lehre (FöFoLe; Reg.-Nr. 800/788) der medizinischen Fakultät der LMU München.